Keine Lust auf ein Fest auf Gräbern: Wie Städte, Kneipen und Fans mit der WM umgehen

Ein fliegendes weißes Gewand mit roter Aufschrift, das ausgelassen lacht und einen Ball vor sich her spielt – das ist das Maskottchen der diesjährigen Fußball-WM. Genannt wird es La’eeb, was im Arabischen so viel bedeutet wie „begabter Spieler“. Bei Bekanntgabe verkündete Weltverband Fifa, dass das Maskottchen „allen die Freude des Fußballs bringen“ solle, so wie es das französische Huhn, die kanadische Schneeeule und das brasilianische Gürteltier einst getan hatten.

Doch schon zu diesem Zeitpunkt löste das weiße Gewand nicht nur Freude bei den Fußballfans aus, sondern stieß angesichts der Gespenster Anmutung auf viel Kritik. Viele fühlten sich an die laut einem auf Regierungsdaten gestützten Bericht von Amnesty International mindestens 15.000 Arbeitsmigrant*innen erinnert, die seit Vergabe der WM ums Leben gekommen sind. Und auch hierzulande scheiden sich die Geister bei der Frage, wie mit dem Turnier umgegangen werden soll. Hinfahren, wegschauen oder sogar boykottieren?

Der DFB gerät zunehmend unter Druck

Insbesondere der Deutsche Fußball-Bund (DFB) gerät wenige Wochen vor Anpfiff zunehmend unter Zugzwang. „Der Druck auf den Kessel wurde größer. Die Zeit der übervorsichtigen sportlichen Diplomatie und des Wegduckens ist vorbei“, sagte Andreas Rettig, ehemaliger DFL- und Bundesliga-Manager bei der Podiumsdiskussion „Nicht unsere WM“ in Frankfurt. „Daran wird Präsident Neuendorf jetzt auch gemessen.“

Er sieht die Verantwortung nicht nur bei den Führungen der Vereine und Verbände, sondern auch bei den Nationalspielern, die mit ihrem Torjubel ein Statement setzen könnten, denn: „Die Macht der Bilder darf man nicht unterschätzen.“

Aufgrund der Gespenster-Anmutung stieß das WM-Maskottchen auf viel Kritik.
Aufgrund der Gespenster-Anmutung stieß das WM-Maskottchen auf viel Kritik.
© IMAGO/Xinhua

Bislang hat die Nationalmannschaft sich mit politischen Statements zurückgehalten. Zuletzt verkündete Kapitän Manuel Neuer, eine Armbinde in bunten Farben zu tragen als Zeichen der Vielfalt. Dafür, dass diese nicht die tatsächlichen Farben der Pride-Flagge abbildet erntete er viel Spott und Kritik.

Menschenrechtsorganisationen fordern Entschädigungen

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International äußerten in den vergangenen Monaten außerdem immer wieder Zweifel daran, dass die arbeitsrechtlichen Reformen, die das Emirat seither veranlasst hat, auch nach dem Turnier fortbestünden und das Kafala-System gänzlich abgeschafft würde.

Sie fordern einen Entschädigungsfond für die Arbeitsmigrant*innen und deren Familien, der mindestens 440 Millionen US-Dollar umfassen soll, was in etwa der Höhe der Preisgelder entspricht, die bei der WM an die Verbände ausgezahlt werden. Der Forderung nach Entschädigung haben sich der norwegische, niederländische und zuletzt der französische Verband angeschlossen, auch DFB-Präsident Bernd Neuendorf hat sich für Reparationsleistungen ausgesprochen.

Die Zeit der übervorsichtigen sportlichen Diplomatie und des Wegduckens ist vorbei.

Andreas Rettig

Während sich die deutsche Nationalmannschaft noch mit kritischen Botschaften zurückhält, hat die dänische Nationalmannschaft verkündet, ein drittes Trikot zur WM mitzubringen: Ein ganz in Schwarz gehaltenes Shirt. Damit solle ein Zeichen gegen die Ausbeutung der Arbeitsmigrant*innen und die Menschenrechtsverletzungen gesetzt werden, erklärte Jakob Jense, Geschäftsführer beim Dänischen Fußballverband. Der Ausrüster Hummels sprach sogar von einem „wandelnden Trauerflor“ und will Teile der Einnahmen des Trikots an Amnesty International spenden.

Paris will keine Spiele zeigen

Je näher das Turnier rückt, desto relevanter wird auch das Thema Public Viewing. Die Stadt Paris entschied bereits, dass auf öffentlichen Plätzen oder Großleinwänden keine Spiele übertragen werden. Als Gründe nannte der für den Sport zuständige stellvertretende Bürgermeister Pierre Rabadan die Bedingungen, unter denen die WM organisiert worden sei, „sowohl in Bezug auf die Umwelt als auch auf den sozialen Aspekt“. Diesem Vorhaben schlossen sich weitere Städte wie Marseille an. Marseilles Bürgermeisterin Benoit Payan bezeichnete das Turnier gar als „menschliche und ökologische Katastrophe“.

Die Kampagne „Boykott Qatar 2022“ übt nicht nur Kritik an der WM in Katar, sondern an der Überkommerzialisierung des Profifußballs.
Die Kampagne „Boykott Qatar 2022“ übt nicht nur Kritik an der WM in Katar, sondern an der Überkommerzialisierung des Profifußballs.
© IMAGO/Jan Huebner

Ähnlich sehen das die Unterstützer*innen der Kampagne „Boykott Qatar 2022“, hinter der zahlreiche deutsche Faninitiativen und Einzelpersonen stehen, die „der glamourösen Inszenierung entgegenwirken wollen, die Fifa und Katar-Regime der Weltöffentlichkeit präsentieren.“ Es solle sich künftig weder für den Weltfußballverband noch für autokratische Herrscher oder Sponsoren lohnen, den Fußball auf diese Weise auszubeuten, heißt es auf der Website.

Alternative Turniere anbieten

Bernd Beyer, der zu den Initiatoren gehört, erklärt am Telefon: „Es hat lange gedauert, bis sich unsere Unzufriedenheit und unser Frust hin zu einer bewussten Haltung entwickelt haben.“ Bereits vor zwei Jahren gründeten er und weitere Fußballfans die Kampagne und schon damals sei ihnen klar gewesen, dass sie das Turnier nicht verhindern könnten. „Uns ging es von vornherein um einen Fan-Boykott. Aber wir hätten uns ein Zeichen vom DFB gewünscht, nicht an der WM teilzunehmen.“

Es solle sich künftig weder für den Weltfußballverband noch für autokratische Herrscher oder Sponsoren lohnen, den Fußball auf diese Weise auszubeuten.

Kampagne „Boycott Qatar 2022“

Mittlerweile steht vor allem die Frage, wie mit internationalen Turnieren künftig umgegangen werden soll, im Fokus, aber auch während der WM sind einige Aktionen geplant. „Dabei geht es weniger um das Nicht-gucken und vielmehr darum, was man dem Turnier entgegensetzen kann. Wir sehen uns als Ideengeber.“

Zu solchen Ideen gehört es, Bars dabei zu unterstützen, alternative Programme wie Autorenlesungen anzubieten und stattdessen Fußball-Filme oder alte Spiele zu zeigen. „Das Fan-Finale von 2014 kann man zum Beispiel auf Youtube schauen“, sagt Beyer. Er empfiehlt außerdem eigene Fanturniere zu veranstalten oder die Bundesliga der Frauen zu schauen „die ja wie gewohnt weiterläuft“. Bei den letzten beiden Bundesliga-Spielen vor Turnierbeginn seien außerdem einige Fanproteste geplant. „Die versuchen wir zu dort noch einmal zu bündeln.“

Kritik an der Überkommerzialisierung

Seit Saisonbeginn waren immer wieder Aktionen bei einzelnen Bundesliga-Spielen zu beobachten, zuletzt von Seiten der Bayern-Fans, die mit einem Spruchband gegen die umstrittenen Aussagen von Uli Hoeneß zu Katar protestierten. Darauf war zu lesen: „Staatsbesuche, Trainingslager, Tausende Tote für WM-Jubel… Besser geht‘s nur dem eigenen Gewissen, Uli H.“

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Dario Minden, Zweiter Vorsitzender des Fan-Bündnisses „Unsere Kurve“, der gegenüber dem katarischen Botschafter die Situation queerer Personen scharf kritisiert hatte, betonte bei der Podiumsdiskussion: „Die WM ist lediglich der Tiefpunkt einer Entwicklung und wir müssen darum kämpfen, dass es danach bergauf geht.“ Dafür müssten die Verbände sich anders aufstellen und der Sport ein Rückgrat entwickeln.

„Uns ist klar, dass alles marktwirtschaftlich ist in unserer Gesellschaft. Aber wir kritisieren die Überkommerzialisierung und die Tatsache, dass man den Fußball verkauft – sei es zum Preis von 15.000 Menschenleben.“ Die Basis sollte den Druck auf die Verbände erhöhen – „damit diese nicht mehr jeden Euro aufheben, egal wie blutig er ist“.

Fans protestierten mit diesem Banner gegen die umstrittenen Aussagen von Uli Hoeneß zur WM.
Fans protestierten mit diesem Banner gegen die umstrittenen Aussagen von Uli Hoeneß zur WM.
© IMAGO/Sven Simon

Die Basis hat derweil zahlreiche Wege gefunden, wie mit der WM umgegangen werden soll. Zahlreiche Fanklubs, zum Beispiel vom 1. FC Köln, Schalke 04, Borussia Dortmund und Fortuna Düsseldorf, erklärten öffentlich, die WM zu boykottieren. In einem Positionspapier, das Fans der Fortuna und Verein gemeinsam veröffentlichten, hieß es: „Es ist an der Zeit, die Vergabepraxis für Weltmeisterschaften grundsätzlich zu hinterfragen.“

Neben sportlichen und wirtschaftlichen Aspekten müssten auch ökologische und gesellschaftliche Positionen vergaberelevant sein. Der Fanzusammenschluss „ProFans“ hatte den DFB bereits im März 2021 zum Verzicht auf die WM aufgefordert, denn: „Ein rauschendes Fußballfest auf den Gräbern von Tausenden Arbeitsmigranten – daran teilzuhaben, wäre das Ende von Ethik und Würde.“

Gleichzeitig steht auch jeder einzelne Fußballfan vor der Frage, wie er mit der WM umgeht. Andreas Rettig, der sich selbst als „bekennender Kneipen-Gänger in Köln“ bezeichnet, will sich zwar „das eine oder andere Spiel anschauen“. Die Eröffnungsfeier werden sie sich in seiner Stammkneipe aber nicht ansehen, sondern stattdessen eine Gegenveranstaltung anbieten. Für Minden geht es auch „um die ganz kleinen Dinge“ und so will er sich während der Spiele stattdessen Re-Lives seines Lieblingsvereins Eintracht Frankfurt anschauen, „um die Freude am Fußball in den Vordergrund zu stellen“. 

Die WM ist lediglich der Tiefpunkt einer Entwicklung und wir müssen darum kämpfen, dass es danach bergauf geht.

Dario Minden

Die TSG Hoffenheim gab kürzlich als erster Bundesligist bekannt, auf Berichte über die WM in Katar gänzlich zu verzichten. Auch der Regionalligist SV Babelsberg will kein Public Viewing anbieten, sondern stattdessen im Stadion eine Bande „Katar 2022 – Nicht unsere WM“ anbringen und alternative Fußballaktivitäten unterstützen.

Zurück zu den Wurzeln des Fußballs

Ähnlich kreativ ist eine bundesweite Fan-Initiative des Bundesligisten Schalke 04, die sich „Back to Bolzen“ nennt, also sozusagen „zurück zu den Wurzeln des Fußballs“ kehren will. Das Ziel: Statt sich die WM-Spiele anzuschauen, sollen möglichst viele Fußballfans selbst aktiv werden und in diesem Zeitraum eigene Spiele organisieren oder kleinere Vereine unterstützen. Ganz egal ob „ein kleiner Kick mit Freunden, Tischfußball oder der Support des heimischen Kreisliga Vereins“. Auch in Berlin soll am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, ein Turnier der Initiative „Kicken statt Gucken“ stattfinden.

Public Viewing in Kneipen und Restaurants dürfte es bei dieser WM deutlich weniger geben.
Public Viewing in Kneipen und Restaurants dürfte es bei dieser WM deutlich weniger geben.
© imago images/Seeliger

Die unterklassigen Spiele laufen ohnehin weiter und auch die Bundesliga der Frauen ist pünktlich zum Start der K.O.-Phase bei der WM wieder zurück. Am 20. November, dem Start der WM, findet sogar die dritte Runde im DFB-Pokal statt. Christian Rudolph, Mitglied bei Tennis Borussia, hofft, dass die Spiele der Frauen und unterklassige Spiele während der WM mehr Zulauf erhalten.

Der Amateurfußball habe soviel mehr zu bieten als der Kommerzfußball, zum Beispiel Nähe, Mitgestaltung und Mitbestimmung durch ein echtes Vereinsleben, sagt Rudolph und kritisiert: „Die WM in Katar zeigt sehr deutlich das es den Funktionären nur um Kommerz, Profite und Macht geht. Fußball wurde zwar durch die Arbeiter*innenbewegung groß, doch hat der Kommerz längst gesiegt.“

Bars und Restaurants boykottieren

Als Bundesvorstandsmitglied des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) hat er außerdem die Situation marginalisierter Menschen im Blick „Den Verbänden ist es egal, dass die Rechte von Arbeiter*innen, Frauen und queeren Menschen, mit Füßen getreten werden. Die WM in Katar ist nur für eine privilegierte Elite, die sich Fußball noch leisten kann.“ Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch rieten queeren Fans davon ab, nach Katar zu reisen, denn dort werden queere Menschen nach wie vor kriminialisiert und theoretisch droht sogar die Todesstrafe.

Die WM in Katar zeigt sehr deutlich das es den Funktionären nur um Kommerz, Profite und Macht geht.

Christian Rudolph

Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass zahlreiche Bars und Restaurants in Deutschland, die in den vergangenen Jahren internationale Turniere übertragen haben, die WM in diesem Jahr boykottieren. Diesem Vorhaben schlossen sich bislang deutschlandweit mindestens 53 Kneipen an, wie aus einer Grafik hervorgeht, die das Katapult-Magazin veröffentlichte.

Mit dabei ist das Mokum in Prenzlauer Berg. Dort sind die Toiletten mit „Boykott Qatar 2022“ Stickern beklebt. An der Eingangstür hängt ein kleines Körbchen aus dem Gäste sich Aufkleber nehmen dürfen. Auf Instagram erklären die Betreiber*innen die Hintergründe des Boykotts: „Wir wissen, es gab schon viele Austragungsländer, die hochdiskutabel war. In Katar kommt jedoch hinzu, dass dieses Land kein Fußballland ist.“ Die Austragung habe rein kommerzielle und politische Gründe. „Für uns sind die auf Menschenleben gebauten Stadien inakzeptabel.“

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Die vielen Menschenleben dürften auch in den kommenden Wochen eine große Rolle spielen. Und so wird der Anblick des Maskottchens mit wenig Freude verbunden sein. Vielmehr dürfte er den Zuschauenden vor Augen führen, wohin der Weltfußball sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat.

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